Stellen Sie sich ein Wohnzimmer vor, in dem wilde Gräser durch eine vertikale Spalte emporwachsen und das Dachbegrünungen von Moosen und Farnen unterstützt. Dieser Ansatz – Rewilding Interiors – setzt auf die gezielte Rückkehr „wilder“ Natur in unsere Wohnräume. Anstatt perfekte, hochpolierte Oberflächen zu favorisieren, lehnt sich der Rewilding-Trend bewusst an natürliche Unordnung und Wachstum an. In diesem Artikel erfahren Sie, was diesen Stil ausmacht und weshalb er nicht nur optisch, sondern auch ökologisch eine Bereicherung sein kann.
In der Ökologie steht „Rewilding“ für die Rückkehr von Wildnis in zuvor stark vom Menschen geprägte Gebiete. Übertragen auf das Interieur bedeutet es, pflanzliches und mikrobielles Leben aktiv zu fördern, statt es durch sterile Perfektion zu unterdrücken. Ob Moosbewuchs an ausgewählten Wandsegmenten, echte Stein- und Erdhaptik im Bodenbereich oder sogar Mini-Biotop-Nischen: Rewilding Interiors lassen wilde Natur ins Haus, ohne die Standards des modernen Wohnens ganz aufzugeben.
Dabei geht es weniger um simple Zimmerpflanzen und Topfpflanzen, sondern um ein umfassendes Ökosystem im Kleinen: organisierte „Unordnung“, in der Pilze, Moose, Insekten oder Vogeltränken eingebunden sein können. Die Idee: Natürliche Prozesse wie Wachsen, Vergehen, Wasserzyklen und Kleinstlebewesen werden zu einem selbstverständlichen Teil der Wohnkultur. Das klang lange Zeit wie ein Widerspruch – doch Rewilding Interiors beweisen, dass ein subtiler, ausgewählter Rückzugsraum für wilde Natur nicht nur urig, sondern auch ästhetisch und gesundheitsfördernd sein kann.
Ob man nur kleine Bereiche „verwildert“ oder ein durchgehendes Konzept anstrebt, bestimmte Grundgedanken sind charakteristisch:
Wichtig ist dabei eine gewisse Sorgfalt, damit sich Feuchtigkeit, Schimmel oder Schädlinge nicht unkontrolliert ausbreiten. Spezielle Membranen, Belüftungslösungen und organische Substrate sind in der Regel nötig, um die „Halb-Wildnis“ unter Kontrolle zu halten.
Ein modernes Beispiel für Rewilding Interiors kommt aus Seoul: Ein Architekturbüro hat in einer Altbauwohnung einen schmalen Flur zum „Moss Corridor“ umfunktioniert. Dafür:
Das Resultat: Ein ein Meter breiter Korridor, der sich wie ein Mini-Waldpfad anfühlt. Besucher erleben erfrischende Kühle und natürliche Duftnoten. Bei großer Hitze im Sommer sorgt die Verdunstung sogar für ein angenehmes Mikroklima. Die pflege ist relativ gering, da das Moos in einer naturnahen Zusammensetzung wächst und nur alle paar Wochen manuell kontrolliert wird. Allerdings muss man akzeptieren, dass das Moos mal dichter, mal lückiger wächst – eben „wild und lebendig“.
Wer selbst Rewilding-Elemente ausprobieren möchte, findet hier zwei Ideen für den Einstieg:
Ergebnis: „Wilder“ Mikrokosmos im urbanen Kontext, der bei guter Pflege durchaus stabil bleibt.
Ergebnis: Ein semi-wilder Klettereffekt an Ihrer Wand – muss gelegentlich kontrolliert werden, kann aber ein natürliches, „unordentliches“ Flair schaffen.
Mit solchen DIY-Projekten spürt man den Charakter von Rewilding Interiors: nicht perfekt geformte Landschaft, sondern ein Stück lebendiger Natur in den eigenen vier Wänden. Wer mehr will, kann gezielt architektonische Elemente (z. B. Vertikalbeete, Bodeneinschnitte) integrieren, um eine Wildnis-Ecke zu schaffen.
Wie jede Einrichtungsphilosophie hat Rewilding helle und dunkle Seiten:
Aspekt | Vorteile | Nachteile |
---|---|---|
Ästhetik | Ursprüngliche Natürlichkeit, „uriger“ Charme, beruhigende Atmosphäre | Kann zu unaufgeräumt oder „chaotisch“ wirken, wenig minimalistisches Finish |
Gesundheit | Natürliche Luftfeuchte, mögliche positive Mikroorganismen; Nähe zur Natur fördert Wohlbefinden | Allergiker könnten Probleme bekommen (Sporen, Pollen). Hygienekonzepte nötig |
Ökologie | Grünflächen binden CO₂, fördern Biodiversität im Kleinen | Konstanter Wasserbedarf, bei Fehlplanung Schimmelgefahr |
Wartung | Wenig Eingriffe bei gutem Mikroklima, teils sich selbst regulierend | Manche Bereiche müssen kontrolliert werden (wachstumsfreudige Ranken, Insektenpopulationen) |
Für all jene, die perfekte Ordnung oder steril-glatte Oberflächen bevorzugen, dürfte Rewilding wenig passen. Wer hingegen den Lebenszyklus der Natur – Wachstum, Zerfall, Neubeginn – wertschätzt und ein Stück wilder Magie in sein Zuhause bringen möchte, kann sich hier verwirklichen. Wichtig bleibt ein gesundes Gleichgewicht zwischen menschlichem Komfort und Naturentfaltung.
Einer der größten Gewinne durch Rewilding Interiors ist die Förderung von lokaler Biodiversität. Indem man Tieren und Pflanzen im Innenraum etwas Freiraum bietet, unterstützt man Mini-Ökosysteme. Selbst winzige Biotope können ein Rückzugsort für Insekten sein. Wer schon ein Terrarium oder ein Indoor-Aquaponik-System hat, weiß, wie faszinierend es ist, Tieren und Pflanzen beim Gedeihen zuzusehen. Rewilding geht diesen Weg weiter – jedoch meist offener, weniger domestiziert.
Zudem trägt die Rückkehr zu natürlichen Materialien zu einer nachhaltigeren Wohnkultur bei. Statt synthetischer Oberflächen dominieren Holz, Erde, Stein und lebende Pflanzen, die nachwachsend oder biologisch abbaubar sind. Das kann in eine umfassende Kreislaufidee münden, bei der Substrate oder Materialreste kompostiert und wiederverwendet werden. Natürlich ist die Umsetzung je nach Bauweise unterschiedlich komplex – ein Moosflur oder ein Baumsämling im Zimmer erfordert Schutzkonzepte für Feuchte und Wurzeln. Wer Rewilding professionell plant, sollte sich zumindest Basiswissen aus Botanik und Biophilic Design aneignen oder entsprechende Fachleute hinzuziehen.
Die nächsten Jahre könnten zeigen, wie Rewilding Interiors sich weiterentwickeln. Einige Forscher kombinieren schon jetzt lebende Pflanzen mit Sensorik und Automatisierung (Stichwort: Smart Green Systems). Das reicht von Feuchtigkeitssensoren, die automatisch bewässern, bis hin zu Agrar-Walls, in denen essbare Wildkräuter wachsen. Andere Projekte setzen auf bioreaktive Fassaden (z.B. Algen- oder Pilzsysteme) – man kann sich ähnliche Konzepte im Innenraum vorstellen, wo Sporen und Myzel ein minimales, aber spürbares Waldklima erzeugen.
Zudem könnte Stadtökologie enger mit dem Interieur verschmelzen. Balkone werden zu Wildbienen-Paradiesen, Innenhöfe zur Mikro-Wildnis, und Teile des Wohnraums unterstützen Zugvögel oder Fledermäuse. Damit Rewilding jedoch nicht in ungeplantes Chaos ausartet, braucht es kluge Gestaltung und Konzepte, die Bewohnern wie Tieren und Pflanzen gleichermaßen zugutekommen. Ob sich das als größere Bewegung durchsetzt oder eine Randströmung bleibt, hängt wohl vom wachsenden Bewusstsein für Klima-, Arten- und Umweltschutz ab.
„Rewilding Interiors“ bringt uns zurück zum Wesentlichen: dem Zusammenspiel von Mensch und wilder Natur. Anstatt die Natur krampfhaft draußen zu halten oder sie nur in gezähmter Topfpflanzen-Form zuzulassen, sorgt Rewilding für ein Stück Wildnis in vertrauten Wohnbereichen. Die Atmosphäre gewinnt an Ursprünglichkeit, Kreativität und Gelassenheit. Zugleich birgt dieser Ansatz Herausforderungen – Hygiene, Pflege und Mitbewohner wie Insekten oder Krabbeltiere können eine Umstellung darstellen. Doch richtig umgesetzt, kann ein Rewilding-Konzept zum Mehrwert für Gesundheit und Umwelt werden.
Wer Experimentierfreude, naturverbundenen Sinn und ein bisschen Toleranz für „Unordnung“ mitbringt, dem eröffnet Rewilding Interiors einen faszinierenden Weg, das Leben in all seiner Vielfalt ins Haus zu holen. Ob es nur ein bepflanzter Wandstreifen oder ein ganzer Korridor wird – jeder „Rückzugsort“ für wilde Pflanzen und Tiere im Innenraum stärkt unser Bewusstsein für das fragile und zugleich unbändige Wunder der Natur.